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AutorenbildGideon Franck

Leben mit chronischen Schmerzen: Freiheit trotz Einschränkung

Aktualisiert: 24. Juni 2022

... und wie ich beschloss Psychotherapeut zu werden.


Wo ist die Freiheit im durch Schmerz eingeschränkten Leben? In jedem Moment! Klingt komisch? Kann ich gut verstehen. Dabei ist es sogar ganz egal, welche Schmerzen da sind: die gerne genommenen Schmerzen im unteren Rücken, Nerven- oder Kopfschmerzen, Fibromyalgie, Arthrose… völlig schnuppe.


Vor über einem viertel Jahrhundert habe ich dies von einem bewundernswerten Mann gelernt und es hatte gleich mehrere lebensentscheidende Bedeutungen für mich. Hier liest Du was passiert ist… und vielleicht findest Du ja auch etwas für Dich darin.

Ein Schwarm Vögel fliegt über einen Strand
Wer will nicht frei sein? Auch mit chronischen Schmerzen ist es durchaus möglich.

Inhaltsangabe


Über meine Berufswahl als Betroffener

Immer wieder werde ich gefragt, warum ich eigentlich Psychotherapeut geworden bin. Öh, ist das so etwas Besonderes? Immerhin ist Psychologie seit Jahrzehnten eines der beliebtesten Studienfächer. Vielleicht wundern sich die Leute, weil ich oft so optimistisch und froh bin, dass das nicht so ganz zu dem Bild passt, was sie von Psychoherapeut*innen haben. Vielleicht fehlt ihnen etwas offensichtlich Betroffenes an mir, vielleicht schaue ich nicht oft genug nachdenklich drein oder vielleicht suchen sie verzweifelt nach einer offensichtlichen psychischen Störung. So, habe ich das Klischee gut genug bedient?

Okay, ja betroffen kann ich durchaus sein, nachdenklich auch und meine Erfahrung ist, dass jeder so sein Päckchen zu schleppen hat - warum sollte ich eine Ausnahme sein? Vielleicht habe ich ja über die Zeit gut genug gelernt damit umzugehen. Wenn andere davon erfahren, dann sind sie meistens betroffener als ich selber. Kennst Du das? Man sieht es uns halt nicht immer an.

Doch was sind denn die wichtigen Dinge, die es mir ermöglichen, so mit meinen Schmerzen usw. umzugehen? Was lässt mich einen so unerschütterlich optimistischen Blick auf meine Mitmenschen haben? Denn ja, den habe ich tatsächlich… auch wenn ich denke, dass unsere gelebte Ethik nicht unbedingt mit der kulturellen Evolution Schritt gehalten hat - da gibt es Aufholbedarf. Es ist ja auch so, dass Optimismus nicht meint, dass ich alles schön, heil und gut finde, was so geschieht, oh nein!

In jeder Situation gibt es Freiheit!

Nun bin ich aber entschiedener Verfechter der Idee, dass wir in jeder Situation unseres Lebens eine gewisse Freiheit finden können. Das mag natürlich ein wenig komisch anmuten, gerade wenn der Körper einen ständig mit Schmerzen gängelt. Wo soll da die Freiheit sein?

Natürlich ist es nicht jede Form von Freiheit, tun zu können, was immer man will. Es ist eher die innere Freiheit, sich entscheiden und wählen zu können. In jeder Situation! Immer!

Was hat mich dazu gebracht? Da gibt es zwei Ereignisse in meinem Leben. Von einem berichte ich Dir heute.

Es fing mit einer Begegnung an. Die ist zu großen Teilen auch Schuld daran, dass ich heute Psychotherapeut bin. Was nur die wenigsten wissen ist, dass ich nie, wirklich nie Psychotherapeut werden wollte. Ja, tatsächlich. Damals wollte ich zum Film und habe Germanistik studiert. Psychologie war mein Nebenfach. Ich hielt es für lohnend, weil Filme ja immer von Menschen handeln, die auf eine bestimmte Weise besonders ticken. Da lag dieses Fach irgendwie nahe. Etwas mehr verstehen, warum Menschen so sind wie sie sind, das war mein Ziel.


Aber um Gottes Willen, man bleibe mir vom Leib mit klinischen Psychologen. „Alle einen an der Waffel! Und dieses weichgespülte Geschwafel“ es war zum Davonrennen und gar nicht meins. Dazu kamen noch die, für mich völlig unverständlichen, Streitereien zwischen den Therapieschulen. Also nein, nein und nochmals nein! Ohne mich. Inhaltlich interessierte es mich trotzdem.

Dann passierte es. In Hamburg fand der Kongress „Evolution of Psychotherapy“ statt. Da waren die Größen und Urgesteine der Psychotherapie eingeladen: Albert Ellis, Aaron Beck, Paul Watzlawik, Eugene Gendlin, Otto Kernberg usw. Als Hauptvortragender kam Viktor Frankl mit seinen 91 Jahren angereist. Gehofft hatte ich als studentischer Helfer auf einen Platz an der Einlasskontrolle, so dass ich freie Fahrt in die Vorträge bekäme. Doch nix da! Eingeteilt wurde ich als einer von zwei Taxifahrern. Es dauerte ein paar Momente bis ich begriff, dass ich damit fast der einzige war, abgesehen von meinem Freund und Kommilitonen Alexander, der den Großteil der Referenten ca. anderthalb Stunden ganz für sich im Auto hatte. Alleine mit den Stars der Veranstaltung sozusagen. Aufregung!


Von Vorbildern lernen

So holte ich auch Viktor Frankl mit seiner Frau vom Flughafen ab. Ich kannte nur seinen Namen und wusste, dass ihn anscheinend alle bewundern. Er schien ein Schwergewicht der Szene zu sein, so viel war mir klar. Und daher war ich überrascht, als ein recht kleiner aber agiler Mann mit seiner äußerst netten Ehefrau in meinem Taxi Platz nahm. Okay, ein bisschen aufgeregt war ich schon - so ein Mega-Promi der Psychotherapie und ich in einem Auto. Seine Frau und er neckten sich herzerwärmend und ich dachte mir: „Wenn ich mal mit jemandem alt werde, möchte ich das auch so haben. Wie wundervoll!“


Für alle, die Viktor Frankl nicht kennen, eine radikale Kurzfassung, die sicherlich wichtige Punkte auslässt: Er war Psychiater in Wien, im dritten Reich in Auschwitz interniert und interessierte sich danach sehr für die Gründe, warum einige daran zerbrachen und andere wesentlich besser mit dem Grauen zurechtkamen, das sie dort erlebten. Er fand heraus, dass diejenigen, die in dem Ganzen irgendwie einen Sinn für sich finden konnten, deutlich besser mit dieser schwierigen Situation umgehen konnten. Daraufhin begründete er die Logotherapie - die Sinntherapie. Diese hat bis heute großen Einfluss auf viele Formen der Psychotherapie.


All das wusste ich damals selbstverständlich nicht. Jung, naiv, offen und neugierig saß ich also mit diesem „Giganten“ meines Faches im Auto. Dann, wie aus dem Nichts fragte er mich plötzlich (und ich erstarrte): „Junger Mann, was ist das Wichtigste im Leben?“

Seine Frau: „Ach lass doch mal den jungen Mann in Ruhe.“

Er beharrte: „Nein, nein, das will ich jetzt wissen!“

Währenddessen raste mein Kopf: „Au Mann, Viktor Frankl will von mir wissen, was das Wichtigste ist. Was ist das Wichtigste? Was ist das Wichtigste?“ Schweiß in den Händen machte sich breit, das Lenkrad wurde etwas glitschig. Längere Pause im Gespräch.

Ich (völlig überfordert und hilflos): „Glücklich sein? Dass man glücklich ist?“

Mein Stress schwappte wahrscheinlich in einer großen Welle zu den beiden auf die Rückbank.

Viktor Frankl (freundlich und ein bisschen gewitzt): „Genau! Und wie wird man das?“

Das war zu viel für mich. Etwas in mir kapitulierte und gab keinen Gedanken mehr preis - Häschen in der Grube. Zunehmende Nervosität, die mir endlos unangenehm war, machte sich breit.

Er war nett, lies mich nicht zappeln und redete weiter:

„Sinn, man muss seinem Leben Sinn geben, junger Mann. Lassen Sie mich Ihnen erklären, wie ich dazu gekommen bin. In Auschwitz war ich als Arzt für meine Mitgefangenen eingesetzt. Mit ein paar anderen bestand der Plan auszubrechen. Natürlich war das alles streng geheim, sonst hätten sie uns sofort umgebracht. Wir wollten in der Nacht fliehen, alles war vorbereitet. Um unauffällig zu sein aber auch um alle, für die ich da war, noch einmal zu sehen, drehte ich abends noch einmal eine Runde. Da kam ich zu einem Mithäftling von dem ich wusste, dass er in den nächsten Tagen sterben wird. Er war so entkräftet, er konnte nicht mehr aufstehen. Ich stand vor ihm und er sah mich groß an. ‚Gell, Sie gehen?‘ sagte er. Und da wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte. Ich sah ihn einfach an… und in diesem Moment beschloss ich zu bleiben. Ich wusste genau da, dass ich für diese Menschen da sein wollte und nichts anderes. Gleichzeitig wusste ich, dass ich sicher sterben werde, wenn ich hier bleibe. Ich entschied mich an dieser Stelle zu bleiben. Und, junger Mann, dies war der Moment der größten Freiheit meines Lebens. Nicht als Bergführer in Österreich, nicht als Pilot eines kleinen Flugzeugs fühlte ich jemals so etwas.“

Selbst jetzt, wo ich das schreibe bin ich noch nah ans Wasser gebaut. War da tatsächlich eine Person, die mir erzählte, dass sie im Horror eines Konzentrationslagers Freiheit für sich fand? Als Gefangener? Damals verstand ich die Wichtigkeit für mich noch nicht wirklich. Doch als erstes beeinflusste sie meine Wahl, letztlich in Richtung klinische Psychologie und Psychotherapie zu gehen. Menschen wie Viktor Frankl waren authentisch, klug, gewitzt und wussten wovon sie sprachen - kein weichgespültes Blablabla. Das war anziehend. Das fand ich gut.

Auch bei chronischen Schmerzen kann man wählen
Auch wenn Du es nicht immer siehst - vieles kannst Du beeinflussen

Wählen können bedeutet Freiheit

Doch es passierte noch viel mehr, was ich erst Jahre später verstand. Ein schwerer Autounfall entließ mich mit chronischen Schmerzen ins Leben. Und auch wenn die Folgen sicher nicht mit Frankls Aufenthalt in Auschwitz vergleichbar sind, wirst Du wissen wovon ich spreche, wenn ich sage, dass chronische Schmerzen quälend, extrem einschränkend und behindernd sein können. Außerdem ist man damit oft allein und Verständnis ist rar gesät.


In Momenten, in denen die Schmerzen gerade mal wieder richtig zuschlagen, erinnere ich mich heute noch oft an das Gespräch im Kongresstaxi. Ich stelle mir Viktor Frankl vor und denke: „Dann findest Du jetzt zumindest auch eine kleine Freiheit.“ Und ja, ich finde sie! Sie mag ganz klein sein, vielleicht nur die Entscheidung ob ich sitzen, stehen, liegen oder einen Kaffee trinken will, doch sie macht einen riesigen Unterschied! Innezuhalten (wir nennen das die Pausetaste drücken) und dann zu wählen, das ist oft alles, was es braucht. Doch sind wir in diesen Momenten so in uns gefangen, dass uns das gar nicht erst einfällt, oder?


Gerne gebe ich auch zu, dass ich dabei noch nie eine Freiheit, wie die von Frankl, erlebt habe. Aber es hilft mir (und vielen anderen) ungemein, gerade in schwierigen Situationen.

Probiere es aus!

Jetzt ist es an Dir. Probier es aus! Finde Deine kleine Freiheit in drei Schritten:

  1. Innehalten (hör auf das zu tun, was Du gerade machst)

  2. Überlege Dir mindestens 2-3 Alternativen zu dem, was Du gerade tust (die in der Situation auch machbar sind!)

  3. Entscheide Dich für eine und tue es!

Manchmal braucht das etwas Übung. Du wirst aber schnell reinkommen, wenn Du den Dreh erst einmal raus hast. Lass mich wissen, welche Erfahrungen Du gemacht hast und schreib einen Kommentar. Bin gespannt darauf.

Gerne kannst Du den Text auch mit anderen teilen, für die er vielleicht nützlich sein kann.

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