Oder: die 4 apokalyptischen Reiter des chronischen Schmerzes
Sicher muss ich Dir nicht erzählen, dass es extrem schwierig ist, das zuvor gewohnte Leben mit chronischen Schmerzen und den Einstellungen und Gewohnheiten, die uns so durch das Leben gebracht haben, weiterzuführen. Die Rückenschmerzen machen es Dir schwer, Dich zu bewegen, das Kopfweh verunmöglichen jegliche Konzentration, Deine Fibromyalgie meldet sich mit Morgensteifigkeit und es dauert, bis Du in die Gänge kommst - nichts geht mehr so wie früher. Aber manchmal scheint das unser Kopf noch nicht so richtig begriffen zu haben, oder? Also, was hat unsere innere Haltung damit zu tun?
Inhaltsangabe
Warum wir nicht immer mehr machen sollten
Meine Mutter war Tänzerin. Ja genau - Ballerina. Wunderschön anzusehen, wie Balletttänzer und Balletttänzerinnen sich bewegen. Gleichzeitig kenne ich wenige Berufsgruppen, die dermaßen ehrgeizig sein können. Nie ist es gut genug. Immer geht eine Drehung mehr, das Bein ein Stück höher, der Übergang von einer zur anderen Bewegung etwas eleganter. Frei nach dem Motto, wer mit sich zufrieden ist, hat schon verloren.
Da wir alle ja nicht so ganz unbeleckt von dem zu Hause, indem wir aufgewachsen, sind durch die Welt gehen, habe ich mir davon natürlich auch eine gute Portion geschnappt. Ich gestehe, es ist über die Jahre besser geworden und ich kann auch recht oft zufrieden mit mir sein, doch darunter liegt noch immer so ein Rauschen von „hey, es geht besser, und das weißt Du!“
An sich ist das gar nicht schlecht, denn man bekommt viel gebacken und manchmal auch Anerkennung. Doch mit chronischen Schmerzen wird aus dem Segen schnell ein Fluch. Man übernimmt sich, geht zu häufig über die Grenzen und wie eine Patientin es neulich sagte: „Wenn Du Dich nicht rechtzeitig hinlegst, dann macht das halt Dein Körper für Dich - und glaub mir, das willst Du nicht!“
Die 4 apokalyptischen Reiter des chronischen Schmerzes
So habe ich beschlossen einmal über die Haltungen zu schreiben, die uns Schmerzpatient*innen das Leben schwer machen können, da sie die Schmerzen unablässig befeuern. Hier kommen die vier apokalyptischen Reiter chronischer Schmerzen:
1. Zu hohe Ansprüche an sich selbst
Hand hoch, wer sich schon bei dieser Überschrift ertappt fühlt. Also wenn mein Arm länger wäre, würde er jetzt die Decke berühren. Das ist ganz klar einer der Hauptgründe in unserer Kultur, sich unter Druck zu setzen. Das Spannende ist ja, dass das trotz chronischer Schmerzen nicht aufhört. Unser Kopf strebt trotzdem noch nach höherem und will uns weismachen, dass wir nur dann mit uns zufrieden sein dürfen und können.
Woher das kommt? Naja, natürlich wird es von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Unser Bildungssystem, Hobbys und alles, was uns dann auch im Job abverlangt wird, fördert das ganze natürlich. Letztlich kommen wir auf die Idee, dass unser Selbstwert von unserer Leistung abhängt. Keiner von uns will als doof, blöde und minderwertig dastehen. Also legen wir uns mächtig ins Zeug. Auch wenn wir nicht mehr können.
2. Perfektionismus
Das führt mich gleich zum nächsten Punkt, der unmittelbar mit dem Anspruch an uns selbst verbunden ist: Perfektionismus. Während hohe Ansprüche und Perfektionismus per se nicht schlecht sind, führen sie uns langfristig aber doch in sehr unbequem Situationen. Wann ist es eigentlich genug? Besser geht immer! Also kann ich mich auch noch ein wenig mehr anstrengen, oder?
Du merkst, wo das hinführt!
Wenn Du meine Mails aufmerksam liest oder meine Videos schaust (falls Du noch nicht dazu gehörst, hier ist der Kanal auf YouTube), weißt Du, wie eng Schmerz und Stress aneinander gebaut sind.
3. Es anderen recht machen
Das hier ist ein ganz besonders gemeiner Reiter. Da wir immer fürchten, dass wir sozial geächtet werden, wenn wir ihm nicht folgen. Das Geheimnis ist: er hält uns ständig davon ab, authentisch zu sein und zu dem zu stehen, was uns tief im Herzen eigentlich wichtig ist.
Warum machen wir es dann? Vielleicht erhoffen wir uns die Zuneigung der anderen um uns herum oder vielleicht willst Du auch dem Stress eines Konflikts entgehen, wenn Du mal anfängst, es Dir selber recht zu machen. Versteh mich nicht falsch, es geht nicht darum, die größten Egoman*innen zu werden. Es geht darum zu erkennen um zu bemerken, wann Du mal wieder nur etwas für andere machst und Dich dabei selbst vergisst.
Für andere da sein, kann wunderbar sein und richtig viel Freude bereiten. Das aber nur, wenn es aus den richtigen Gründen geschieht. Wie so oft hängt es an der Brille, durch die ich in die Welt schaue. Vielleicht hast Du auch schon erlebt, dass Du sehr gut darin bist, die Bedürfnisse der andern zu befriedigen und am Anfang hattest Du dafür meistens eine Menge Lob und Anerkennung. Ganz zu Recht! Über die Zeit gewöhnen sich die Leute in der Familie oder im Job aber nun mal an Dein Engagement. Und nach und nach ist es nichts Besonderes mehr, sondern wird als normal empfunden. Irgendwie fehlt das Lob. Du wirst nicht mehr in all Deine Mühen gesehen und gewährt schätzt.
Jetzt könntest Du natürlich mal nachfragen und Bescheid sagen. Das tun nur die wenigsten von uns. Und wenn doch, dann sind die anderen meistens recht verwundert, warum wir jetzt mit so merkwürdigen Dingen ankommen und uns beschweren. Sie finden das doch ganz toll, wie wir das machen. Das kann uns jetzt natürlich befriedigen und wir hören auf zu meckern und machen weiter wie vorher oder wir gehen dem Konflikt aus dem Weg oder und das passiert meistens, wir strengen uns mehr an. Und wenn das normal wird, dann wieder mehr und wieder mehr und wieder mehr. Und hast Du nicht gesehen, sind wir in der gleichen Lage wie bei den zu hohen Ansprüchen und dem Perfektionismus.
4. Nicht „Nein!“ sagen können
Dieser Reiter tritt ganz klar im Schulterschluss mit dem „es allen recht machen“-Reiter auf. Tatsächlich ist das der Punkt, der mir von Patient*innen am häufigsten genannt wird. Klar ist es eine Herausforderung für viele, deutliche Grenzen zu ziehen. Das macht man nämlich, indem man „Nein“ sagt. Werde ich verstanden, wenn ich es tue? Wie reagieren die anderen? Gibt es dann Knatsch? So gibt es viel Unsicherheit! Und so wie unsere innere Werkseinstellung läuft, wollen wir genau diese vermeiden. Also, zack, lieber „Ja“ sagen und auf Nummer sicher gehen. So kann ich es allen wieder recht machen und falle nicht unangenehm auf.
Im Druck stecken bleiben
Wo ist das Problem in Bezug auf die Schmerzen? Wenn ich diesen Haltungen ständig folge, dann:
Vernachlässige ich meine Bedürfnisse (und die meines Körpers).
Braucht es sehr viel Energie, das durchzuhalten und lässt mich erschöpft zurück.
Ich stehe ständig unter Druck und damit sind die Zentren im Gehirn, die mit Angst und Stress zu tun haben, aktiviert, was wiederum die Schmerzen verstärkt.
Was kannst Du ändern?
Oft sind das Muster, die sind ganz tief in uns drinnen. Du hast sie gut gelernt und kennst sie wahrscheinlich schon viele Jahre. Da ist es schwierig, plötzlich alles anders machen zu wollen. Das ist wie beim Autofahren. Ich bin rückwärts unterwegs. Wenn ich die Richtung wechseln will, muss ich bremsen, auf neutral schalten und dann den neuen Gang einlegen. Es bringt nichts vom Rückwärtsgang einfach den Vorwärtsgang reinzuknüppeln. Beim Auto geht das Getriebe kaputt, bei uns Menschen funktioniert es erst gar nicht.
Der wichtigste erste Schritt ist, dass Du Dich dabei erwischst, wieder einem der Reiter zu folgen. Sei neugierig, woran Du ihn bemerkst. Vielleicht kommt ein wenig Anspannung auf, vielleicht bemerkst Du den Beginn von schlechterer Laune, Gereiztheit, vielleicht aber auch das Bedürfnis nach einer Pause, die Du Dir nicht gönnst. Oder vielleicht geht es Dir aber gerade auch recht gut damit und Du beschließt, das jetzt ganz durchzuziehen. Was auch immer es ist, das ist von Person zu Person unterschiedlich. Schau einmal, ob Du ihm nicht gleich folgen musst. Das ist bremsen!
Dann atme ein paar Mal tief durch! Nimm Dir wirklich die Zeit dafür. Vielleicht machst Du ja sogar die Atempause. Du kannst sie hier auf unserer Seite herunterladen. Das ist auf neutral schalten.
Wähle dann, wie Du weitermachen möchtest und überlege, welche Alternativen es jetzt im Moment gibt. Dann tue, wofür immer Du Dich entschieden hast.
Bitte denk daran, dass so tief verwurzelte Gewohnheiten nicht einfach so verschwinden - müssen sie ja auch nicht! Ziel ist es, Dir auf die Schliche zu kommen und zwischendurch immer mal aus diesen automatischen, alten Reaktionen auszusteigen. Das braucht Übung!
Informiere mich doch einfach kurz darüber, wie es geklappt hat und schreib mir eine kurze Mail, wenn Du magst. Gerne kannst Du den Text auch mit anderen teilen, für die er vielleicht nützlich sein kann.
Kommentare