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Warum ist Schmerztherapie so kompliziert?

Aktualisiert: 15. Juni 2022

Für viele unserer heutigen Erkrankungen gibt es recht einfache und schnelle Lösungen. Die

aller Schnellsten und Besten findet unser Körper oft ganz von selbst. Am einfachsten scheint es zu sein, wenn fremde Dinge in unseren Körper eindringen und dort anfangen ihr Unwesen zu treiben. Meist sind dies Bakterien oder Viren. Für viele von ihnen haben wir ein sehr gut trainiertes Immunsystem. Wenn letzteres es nicht schafft (was nur selten der Fall ist, wenn man es denn lassen würde), dann können wir immer noch gegen eine ganze Reihe von Erregern mit Medikamenten kämpfen und sie platt machen. Das ist in den meisten Fällen auch sehr erfolgreich. Diese Erfolge verleiten uns jedoch dazu zu denken, dass wir alle körperlichen Symptome mit gleicher Geschwindigkeit und Effektivität angehen können.


Leidgeprüft erfahren viele Schmerzpatienten, dass diese Denke bei chronischen Schmerzen so nicht zu funktionieren scheint – so auch ich. Und das ist oft sehr frustrierend.

Hierfür gibt es allerdings eine ganze Reihe von Erklärungen, wovon ich hier nur einige herausgreife:


Das Schmerzgedächtnis[1]


Schonmal davon gehört? Gibt es für Schmerz tatsächlich ein eigenes Gedächtnis? Der Begriff Schmerzgedächtnis ist ein häufig überstrapaziertes Wort. Man kann es sich so genau angucken, dass wir uns hier seitenweise in wissenschaftlichen Erklärungen ergehen könnten. Meiner Erfahrung nach, ist damit aber den Wenigsten geholfen. Also wollen wir es einmal ganz grundlegend und einfach versuchen. Wenn du das verstanden hast, ist das für dich und dein Leben meist völlig ausreichend. In den Fußnoten findet ihr noch weitere Quellen für Informationen.

Wie entstehen diese Gedächtnisinhalte? Na ganz einfach, genauso wie bei Englischvokabeln, Geschichtsdaten, Kochrezepten oder Aufschlägen beim Tennis - durch ständige Wiederholung. Indem wir Dinge immer wieder tun und erleben, erkennt unser Kopf sie als wichtig an und fängt an sie abzuspeichern (sie scheinen ja einen wichtigeren Teil in unserem Leben zu spielen, da sie immer wieder auftauchen). Je öfter auf diesen Speicher nun zurückgegriffen wird, um so wichtiger scheint der Inhalt für uns zu sein. Unser Körper ist nett und baut den Weg dorthin immer einfacher und besser aus, sodass wir schneller, einfacher und automatischer darauf zurückgreifen können. Außerdem fängt er an, immer mehr Dinge, die irgendwie mit der gelernten Sache zu tun haben zur Verfügung zu stellen, d.h. er verbindet neue Informationen mit dem schon bestehenden Gedächtnisnetzwerk. Damit wird es einfacher, auf das Gesamtpaket zurückzugreifen. Das ist zum Beispiel hervorragend, wenn wir eine Sprache lernen und gleichzeitig auf Informationen der Länder, in denen sie gesprochen wird und der Kultur zurückgreifen können.

Diese Art zu lernen ist ganz grundlegend in uns Menschen verankert. Und weil sie so grundlegend ist, wird auch alles, was wir häufiger erfahren, erleben, denken, fühlen usw. abgespeichert. Im Fall von chronischen Schmerzen gilt das dummerweise auch für unser Schmerzerleben.

Dazu kommt aber noch ein wichtiger Aspekt des Lernens. Je öfter und heftiger wir es erlebt haben, umso besser merkte sich unser Körper und stellt es uns einfacher, automatischer und schneller zur Verfügung.


Wie wir in einem vorherigen Blogeintrag (siehe hier) schon geschrieben haben, besteht unser Schmerzerleben immer aus mehreren Komponenten (Körperempfinden, Gefühl und Gedanken). Alle drei Komponenten werden in unser Gedächtnisnetzwerk abgespeichert. Dabei kann es nun passieren, das eine Komponente als Auslöser für die anderen dient. Wenn ich mich zum Beispiel richtig schlecht fühle kann es sein, dass dies das typische Ziehen, Drücken oder Stechen der Schmerzen auslöst. Vielleicht sind es aber auch bestimmte Gedanken, die Gefühle und schmerzhafte Körperempfindungen nach sich ziehen. Das kann ganz schön verwirrend werden, wenn wir dann nach einem äußeren Auslöser für die Schmerzen suchen (so wie es meist im medizinischen System getan wird) und keine findet. Zum Thema „Ich bin doch kein Simulant!“ werden wir noch einen extra Blogbeitrag schreiben. Die Schmerzen sind nämlich real (auf keinen Fall eingebildet oder „nur psychisch“).

Wenn ich also Schmerzen schon lange habe, dann habe ich sie auch gut gelernt – obwohl ich das wahrscheinlich nie wollte! Und wie alles, was wir gut gelernt haben, lässt es sich immer wieder abrufen und ist schwierig zu löschen. Es gibt keinen Radiergummi für unser Gedächtnis, auch nicht das Schmerzgedächtnis. Nur Informationen, die weniger gebraucht werden, werden über die Zeit schlechter abrufbar und unser Gedächtnis ist veränderbar, indem wir neue Dinge hinzulernen. Dies sind unsere Chancen im Umgang mit dem Schmerzgedächtnis.[2]


Schmerz ist ein Überlebenssystem


Rein biologisch gesehen ist die Aufgabe unseres Schmerzsystems, uns das Überleben bei Gefahr, Verletzung und Krankheit zu ermöglichen. Würden wir beispielsweise bei einer Entzündung keine Schmerzen spüren, würden wir vielleicht jegliche Warnung des Körpers übergehen und letztlich daran sterben. Menschen ohne Schmerzen, davon gibt es ganz wenige, werden meistens nicht besonders alt, dass sie genau solchen Problemen in frühen Jahren erliegen. Da es so ein wichtiges Überlebenssystem ist, ist es wie ein Netzwerk über verschiedene Bereiche in unserem Gehirn verteilt und eine ganze Reihe von Funktionen spielen eine Rolle (zum Beispiel Gedanken, Gefühle, Aufmerksamkeitslenkung und noch viel mehr). So wird sichergestellt, dass selbst wenn ein Teil des Gehirns ausfällt, das Überlebenssystem weiter funktioniert. Ein sehr geschickter Zug von der Natur. Dummerweise ist diese großartige Erfindung der Natur gar nicht mehr so charmant wenn wir chronische Schmerzen haben – aber so funktionieren wir einmal. Immer wieder rufe ich mir bei solchen Gedanken ins Gedächtnis, dass mein Körper das nicht macht, um mich zu quälen. Daran hat er nämlich gar kein Interesse. Er tut einfach das, was er am besten kann: lernen!


Unser Verhalten

Japp, das ist mein Lieblingspunkt – das Verhalten. Natürlich richten wir uns mit chronischen Schmerzen irgendwie im Leben ein, und damit ändert sich auch unser Verhalten. Wahrscheinlich machst Du viele Dinge, die Du vorher getan hast, nicht mehr und dafür eine ganze Reihe neue. Das heißt nicht, dass uns das alles auffällt, was wir da tun oder dass wir es gar mögen, doch wir richten uns ein und es entstehen alle möglichen Gewohnheiten, wie mehr Zeit vor dem Computer, Fernseher, auf der Couch, im Bett, weniger Bewegung und so weiter, die alle dazu beitragen wie wir uns fühlen und somit letztlich unsere Schmerzen wahrnehmen. Im Gegensatz zu den anderen Faktoren steht Dein Verhalt jedoch prinzipiell unter Deiner Kontrolle, daher ist es der beste und einfachste Ort um eine Veränderung zu starten. Gleichzeitig läuft unser Verhalten so automatisch ab, dass wir uns erst selber auf die Schliche kommen müssen.


Da gibt es keine Quick-Fix-Lösung


Wir haben uns jetzt mal nur drei Punkte vom Schmerzgedächtnis herausgegriffen und oberflächlich beleuchtet. Dennoch wird schon hier deutlich, wie eng unsere Psyche mit unserem Körper und andersherum verzahnt sind. Zudem ist unser Schmerzsystem ein sehr grundlegendes System im Funktionieren unseres Körpers. Aus diesen Gründen gibt es nicht die ein, zwei oder drei Substanzen, die ich einfach zu mir nehmen kann und alles wird dauerhaft gut, wenn der Schmerz erst einmal chronifiziert ist. Auch erreiche ich durch ein einfaches Medikament oder eine alleinstehende psychologische Technik, eine Dehnung aus der Physiotherapie oder einer Atemtechnik immer nur einen Bereich des gesamten Schmerzerlebens. Zudem kommt noch, dass ich gegen ein Bakterium oder ein Virus kämpfen kann. Gegen was aber kämpfe ich, wenn ich gegen mein Schmerzerleben kämpfe? ... Hmmm, ich könnte wetten, Du hast diese Frage zwar gelesen aber nicht für Dich beantwortet. Tu das einfach mal jetzt!

Wie sinnvoll erscheint es ein Überlebenssystem unterdrücken zu wollen? Vielleicht ist es ja sinnvoller hier eine andere Haltung einzunehmen und dem Körper und sich selbst nach und nach wieder zu einem angemessenerem Funktionieren zu helfen. Aufgrund der Komplexität ist es wichtig, dies auf mehreren Ebenen gleichzeitig anzugehen. Das nennen wir im Fachjargon "multimodale Schmerztherapie".

Vor allem zählt aber eines, um wieder besser durch das Leben gehen zu können: Wie wäre es, wenn Du mit Deinem Körper nach und nach wieder Freundschaft schließen könntest?

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